Von der Lebendigkeit toter Krähen (DE)

Michael Glasmeier
1994

Glossar zu Jan van den Langenberg: 25x Atem

Alphabet. In unseren Breiten gewöhnlich aus sechsundzwanzig einzelnen Buchstaben bestehend, um immer neu permutiert zu werden, kommunikative Funktionen, Sprache abzubilden oder zu artikulieren. Eine Krähe fehlt bei sechsundzwanzig. Damit beginnt die Poesie.

Apollon. Er liebte Koronis und zeugte mit ihr Asklepios, den Gott der Heilkunst. Noch während der Schwangerschaft betrügt Koronis Apollon mit einem Sterblichen namens Ischys (Ischias?). Als Apollon, der so oft reingelegte und um Liebe bettelnde Gott, diese Nachricht von einer zu damaligen Zeiten noch weißen Krähe hinterbracht wurde, verwandelte er in göttlichem Zorn den Boten in eine schwarze Krähe. In anderen Überlieferungen mutiert Koronis selbst zur Krähe, natürlich schwarz.

Definitionen. "Die Rabenkrähe (schwarze Krähe, Feld-, Krähenrabe, Corvus corone), 50 cm lang, lebt in Westdeutschland, West- und Südeuropa, Vorderasien. Die Nebelkrähe (graue Krähe, Aaskrähe, Mehlrabe, Corvus cornix), 50 cm lang, in Ostdeutschland, Galizien, Ungarn, Griechenland, Asien bis Japan, wird auf der Kurischen u. Frischen Nehrung gegessen. Die Saatkrähe (Feld-, Ackerkrähe, Corvus frugilegus), 50 cm lang, in Mitteleuropa, Mittelasien, ist bei uns Februar bis November." [Meyers Handlexikon, 19I2]

Deformationen. Krähen sind allgemein nicht mehr sonderlich interessant, höchstens für den Hobbyfotografen, der sie kontrastreich gern in eine Winterlandschaft setzt. Sie haben sich von mythologischen Vögeln in eine Spezies verwandelt, die dem Menschen durch Belagerung von Mülldeponien den Rücken kehren. Historiographisch kann man den Krähen bescheinigen, daß sie als Tiere von höherer Inteligenz die anthropologischen Metamorphosen ornithologisch bestätigen. Die Seltsamkeit der Krähen, ihr Beharren darauf, in Gemeinschaft zu leben, ja, ihre Existenzberechtigung aus der Gruppe zu beziehen, kann als eine Art von Politik verstanden werden, die sich darauf geeinigt hat, ihre höchste Form von Demokratie auf Müllbergen anzusiedeln oder sich an der wärmenden Ausstrahlung von Atomkraft- und Elektrizitätswerken zu begeistern.

Fabel. "Eine Taube, die in einem Schlag wohnte, rühmte sich ihrer Fruchtbarkeit. Da sagte eine Krähe, die ihr zugehört hatte: 'Ei du, höre doch einmal auf, dich so zu brüsten; denn je mehr Junge du ausbrütest, umso mehr Schmerz verursachst du.'" [Äsop.]

Flüge. "In einer seltsamen Weise sind die Vögel in unserem Leben abwesend, wiewohl man sie zweifelsfrei mit unbewaffnetem Auge beobachten kann. Als ob sie am Rand unseres Bewußtseins flögen, wie aufgemalt aufdie Innenseite des Glassturzes, mit dem wir die bewohnte Welt fest überwölbt haben. Die uns inzwischen so naiv erscheinende Vorstellung vom Himmelsgewölbe bezeichnet im wesentlichen genau die innere Grenze unseres Wissens, wenngleich nach außen projiziert. Der undurchsichtige Sturz, den wir somit
tragen, schwankt ein wenig mit jedem Schritt. Die Vögel fliegen stets dicht an ihm, und wir können uns ihnen nicht nähern wegen der Biegung, der Höhlung, des Abgleitens ...So daß also die Vögel für uns da und doch nicht da sind." [Andrej Bitow]

Fotografie als eine Kunst, die nicht nur Abbilder, sondern auch Bilder schaffen will, hat es schwer mit den Vögeln. Glücklich ist sie, wenn sie es schafft, den Vogel als Individuum zu begreifen oder uns in jenes Schattenreich der flatternden Flügel zu entführen. Dann kommt zu dem studium das stechende punetum, von dem Roland Barthes spricht. Dann wird aus dem Vogelleib ein Würfelwurf.

Konservierung ist ein Problem der Musealisierung. Was sich vormals allein in den Naturkundemuseen für die Tierpräparation abzeichnete (Besuchen Sie das Naturkundemuseum in Wien und bewundern Sie die brÖselnden Giraffen und die Sägemehl blutenden Tiger!), erfährt mit der sogenannten modernen Kunst eine Inflation. Würste, Fett, Schimmel werden als Realitäten verarbeitet und bringen all die schönen Museumskonzepte durcheinander. Sie widersetzen sich der Konservierung und damit dem Ewigkeitsanspruch. Lebendige Organismen benötigen quasi zoologische Pflege. Zwischen beiden
Formen siedelt sich die Krähenarbeit von J.v.d.L. an. Die zeitlichen Prozesse sind noch verhüllt, können aber aufbrechen und sich entblößen. Angst und Hoffnung der Krähen.

Krähenfüsse. Die eigentümliche Mehrsprachigkeit eines Wortes. Seit dem 16. Jahrhundert
bezeichnet es eine krakelige Schrift, seit dem 19. Jahrhundert altersbedingte, feine Hautfalten besonders an den Augen und seit dem 20. Jahrhundert jene bei Räuber und Gendarm gleichmaßen beliebten Instrumente, die bei Autoverfolgungsjagden die Reifen zerstören. Im Singular steht es für eine Pflanze aus der Gattung der Kreuzblütler, die in acht Arten weltweit verbreitet ist. Ein schönes Beispiel dafür, wie ein Wort ein Bild umfaßt, welches dann abstrakt in den unterschiedlichsten Unfeinheiten zur Geltung kommt. An dem Vogel muß also was dran sein, wenn schon seine Füsse so mannigfache Bilder assoziieren.

Krähennest. In der Schiffsfahrt bezeichnet es den Ausguck am vorderen Mast, nach Herman Melville eine hochgelegene Einsiedelei, in der man in einen traumhaften Rausch gerät beim Anblick der unendlichen Weite des Meeres, ein künstlicher Zustand, der die geforderte Wachsamkeit vergessen macht. Im Krähennest wird der Blick zum Überblick. Die Kunst ist am Ende.

Krähwinkel. Erstmals verwendete Jean Paul das Wort in einer Satire. Durch August von Kotzebues Lustspiel Die deutschen Kleinstädter (1803) wurde es in Deutschland zum Synonym für kleinstädtischen Geist, Beschränktheit und örtliche Enge, in der sich Zänkereien, Klatsch, Rang- und Titclsucht austoben. Krähwinkel ist somit das Gegenteil von Krähennest, d.h. ein möglicher Anfang von Kunst, auch wenn man Kotzebue heißt. (Besonders aufgeregt hat sich über diesen Namen der deutsche Dichter Arno Schmidt, der seine Freiheit in einem Krähwinkel namens Bargfeld fand.)

Kunstwissenschaft. Bei allen Methodendiskussionen, Rasterfahndungen, Ikonologien und Ideologien zum Werk von Caspar David Friedrich bleiben doch immer Fragen offen: Was nämlich bedeuten diese schwarzen Flecken in der Luft, auf einsamen Bäumen, Äckern und Friedhöfen? War Friedrich vielleicht nicht nur der bedeutendste Rückenfigurenmaler, sondern auch ein einzigartiger Krähendarsteller (vgl. auch sein Selbstbildnis)?

Mythen. In der Mythologie bietet die Krähe ein sehr uneinheitliches, diffuses Bild. Sie muß für alles mögliche ihren Namen und ihre Gestalt hergeben. Die Indianer verehren sie als guten, aber auch als bösen Geist, die Griechen als Symbol der Untreue, aber auch der Liebe, die Deutschen als Unglücksvogel, aber auch als Segen. Grundsätzlich kann man aber sagen, daß die Krähe bei den Alten ein Prophet ist, dessen Weissagungen den Tod in unterschiedlichen Formen (Krieg, Elend, Unglück, Hunger, Verblödung) betreffen.
Im französischen Aberglauben sieht das so aus: über uns fliegend: künftiges Unglück; zu rechten: schon vorhanden; zu linken: eins, dem man noch ausweichen kann; krächzend über uns: Tod. Und in Vitrinen?

Natur. "Auf verschiedenen Wegen - von den jüngsten Entdeckungen der Physik und Biologie bis zu den raschen demographischen Veränderungen unseres Jahrhunderts - bildet sich eine neue Naturauffassung heraus. Damit setzt sich in gewissem Sinne eine Tendenz fort, die im 19. Jahrhundert einsetzte. Darwin ehrte uns, daß der Mensch in die biologische Evolution eingebettet ist; Einstein lehrte uns, daß wir in ein sich entwickelndes Universum eingebettet sind. Die Lehre Darwins bedeutet, daß wir mit allen Formen des Lebens zusammenhängen; das expandierende Universum bedeutet, daß wir mit dem gesamten Kosmos zusammenhängen." [llya Prigogine, Isabelle Stengers]

Nevermore krächzt der Gast in Edgar Allan Poes Gedicht Der Rabe, zu dem der Autor unter dem Titel Die Methode der Komposition eine ausführliche Erklärung abgegeben hat. Darin beschreibt Poe, wie er durch den Klang auf den Raben gekommen ist, zu einer Melancholie, als der poetischsten Form der Trauer und der Kunst. Die Prinzipien seiner Dichtung (Einfachheit, Tonart, Rhythmus, Wortcharakter, Raumbegrenzung, Variation) formalisieren sich in Wiederholungen.
Beim Anblick der Arbeiten von J.v.d.L. mit Krähen in Berlin klang es immer wieder in meinem Kopf: Nevermore.

Ornithologie. Sie ist nicht nur eine beschreibende, exakte Wissenschaft, nicht nur eine beringende, messende, sondern auch eine historische, die uns sagt, daß die Herkunft der Krähe im Ungewissen liegt. Der erste fossile Fund dieser Art stammt aus dem Tertiär und war bei Valdarno (Italien) zu besichtigen. Die Urform, so wird angenommen, hatte eine graue Färbung. Der Pigmentfaktor "Schwarz" ist also erst im Verlauf einer Artenphylogenese hinzugekommen, eine genetische Veränderung durch Mutationssprünge.
Das ist sehr interessant, gerade auch für die Mutationssprünge der Kunst. Aber warum heißt der Ornithologe, der dies alles akribisch erforschte, ausgerechnet A. Meise?

Pflanzen. Der Historiker des Meeres und der Französischen Revolution, Jules Michelet, schreibt: Die wirklichen Tiere scheinen sich zu bemühen, Pflanzen zu werden. Sie ahmen in allem das andere Reich nach. Die einen haben die Festigkeit, die scheinbare Unvergänglichkeit des Baumes. Die anderen blühen auf und verwelken wie eine Blume." Unter einem bestimmten Blickwinkel können wir bemerken, daß sich die Krähen von J.v.d.L. mit ihren differenzierten Physiognomien und Haltungen in der Vitrine wie in einem gläsernen Gewächshaus verhalten: stille morphologische Gebilde aus dem Pflanzenreich, die jeden Augenblick unter der Last eines fallenden Wassertropfens erzittern würden.

Redensarten. Wenn etwas geschieht, das eigentlich völlig logisch ist, aber dennoch bezweifelt wird (absurd), sagt man Die Krähe soll kein Vogel sein. Absurd auch, zum Scheitern verurteilt Eine Krähe waschen. Das ist eine weiße Krähe, meint etwas Seltenes, Rares, eine Kunst- unde Wunderkammer. Ist jemand besonders schlau, heißt es Das ist keine Krähe von gestern, während Eine Krähe für eine Nachtigall kaufen ziemlich dumm ist. Glücklich ist jedoch der, der Zwei Krähen auf einem Schuß erledigt hat, und will die Krähe mit einem Adler streiten, dann ist der Kampfschon verloren. Uneinverständnis mit Menüs im Restaurant oder am eigenen Herd wird durch den Spruch ausgedrückt Davon soll die Krähe fett werden. Sehr bekannt ist Eine Krähe hackt der anderen keine Auge aus. Doch hat die Obergraugans Konrad Lorenz bewiesen, daß das so nicht stimmt. Wünschen wir aberjemanden den Tod, so rufen wir aus Ich wollte, daß dir die Krähen die Augen aushacken! Es muß also festgestellt werden, daß Krähen für alle wesentlichen Situationen und Taten des menschlichen Lebens zuständig sind, inclusive des künstlerischen.

Skulptur. "Aber woher kommen die Statuen? Aus dem Tod. Aus dem Grab. Aus dem Bestattungsritual. Aus der Leiche. Aus dem Aas. Aus der Verwesung. Aus dem, was in keiner Sprache einen Namen hat... Sie kommen aus den Mumien. Aus der Teilung, die der Paraschist zwischen den Kanopengefäßen, die das Weiche enthalten, und den trockenen Gebeinen sowie der gegerbten Haut vornimmt, in Ägypten beispielsweise. Die erste Statue: der mumifizierte Leichnam, zurückgekehrt, hervorgegangen aus seinem Gehäuse, seinem Kasten. Die erste Statue: dieser Kasten seIbst." [Michel Serros]

Sprache. Die Krähe ist ein gelehriger Vogel, d.h. sie kann auch sprechen, bwz. Sprechen nachmachen. Aber Imitatio ist immer auch Teil von Kunst, wie abgerissen und fragmentarisch sie auch vernommen wird. Wir können daher die Sprache der Krähe mit einer Glossolalie in Zusammenhang bringen, mit einer dichterischen Stümmelsprache, einer Sound Poetry; denn auch hier Nachahmnung von Sprache, nicht Sprache selbst. Glossolalie operiert an den Grenzen des Verstummens. Die Krähen von J. v.d.L. schweigen: Triumph der Kunst als Sprache!

Tod. Wenn die toten Vögel vom Himmel fallen, werden sie ein Geschenk; denn nun erst sind sie zur wirklichen, uneingeschränkten Observation freigegeben. Jetzt können wir Einsicht nehmen in den kunstvollen Aufbau des Federkleides, der Muskulatur der Flügel und Krallen, der Leiblichkeit des Bauches und der Schnabelform. Einzig die Augen sind gebrochen und kündigen die Verwesung des gesamten Körpers an. Was tun mit diesem Körper, der uns wie ein Verkündigungsengel in den Schoß gefallen ist? Kinder neigen
zur Erdbestattung, Erwachsene zur Kompostierung, Sammler zur Präparierung und Ornithologen zur Vermessung. J.v.d.L. umwickelt ihn und hütet ihn wie einen Schatz.

Töne. Die Krähe ist keine Nachtigall. Sie singt nicht, sie lärmt, oder genauer: Sie singt ein bißehen im Frühjahr und Herbst, aber ansonsten tobt sie mit ihren Artgenossen wie eine kakophonische Schreckensmeute durch die Gegend. Kraah, kraah. Der Buchstabe K ist ihre Welt und nicht s oder P. Damit sind wir bei der Melancholie, dem Winter und dem Tod. Doch gilt es zu überdenken, was Heinz Tiessen über den Gesang der Vögel allgemein schreibt: "Die Unterschiede im Wesen der verschiedenen Vogelarten dürfen wir nicht verwechseln mit den unterschiedlichen Stimmungseindrücken, die der Mensch in die Erscheinungen hineindeutet. Wir unterlegen den Vögeln leicht Empfindungen auf Grund unserer Klang-Assoziationen, die nichts zu tun haben mit den Antrieben, aus denen sie singen."

Totemnasken werden meist von berühmten Persönlichkeiten kurz nach ihrem Ableben direkt vom Gesicht abgenommen. Sie sollen das Antlitz des Verstorbenen in die Nachwelt hinüberretten. Als Kind des 19. Jahrhunderts steht die Totenmaske in der Tradition der "Effigies" als NachmodelIierung eines ganzen toten Körpers (meist von Königen) mit zum Teil originalen Körperteilen. Der Tote wird den Lebenden sichtbar gehalten. In London ist noch heute die Wachsfigur des Sozialphilosophen und KnastarchitektenJeremy Bentham (1748-1832) zu besichtigen. Doch was wie ein gewöhnliches anoptikumsstück anmutet, ist in Wahrheit brisant; denn unter dem Wachs verbirgt sich das originale Skelett. Marcel Broodthaers hat darüber einen Film gedreht. J.v.d.L. geht den umgekehrten Weg. Seine Arbeit mit Krähen ist nicht die Überlieferung als Kopie, als Originalzitat gewissermaßen, sondern die Ummantelung des Hautmantels, damit das Falsche nicht zur Fälschung, das Tote nicht Zombie wird.

Vernunft. "Wenn nun die Tiere den Menschen weder an Schärfe der Sinneswahrnehmung nachstehen noch hinsichtlich der innerlich denkenden Vernunft noch auch - um es zum Überfluß zu behaupten - hinsichtlich der sprachlich äußernden, dann sind sie in den Vorstellungen wohl kaum unglaubwürdiger als wir....Wer wollte z.B. leugnen, daß die Vögel durch Scharfsinn hervorragen und auch die sprachlich äußernde Vernunft besitzen? Sie, die nicht nur das Gegenwärtige, sondern auch das Zukünftige kennen und es denen, die es verstehen können, offenbaren, wobei sie es außer durch andere Zeichen auch durch die Stimme voraussagen." [Sextus Empiricus]

Vitrine. Sie ist neben dem Rahmen und der Beleuchtung wohl der komplexeste Ausdruck musealen Denkens. Sie ist ein dreidimensionaler Raum, in dem sich ausstellungstechnische Probleme en miniature wiederholen. Sie dient vor allem der Präsentation und Repräsentation von Objekten, Büchern und Schätzen, aber auch der didaktischen Aufarbeitung. In ihr können ein Sonderklima, eine Extrabeleuchtung, aber auch kleinere Sockel und Etagen installiert werden. Als gläserner Raum im Raum ist sie Piedestal, rhebend und schützend zugleich. Sie verkörpert das Schneewittchen unter den Museumssärgen und hat als solches in Naturkundemuseen und Schatzkammern einc herausragende Bedeutung - bis der Künstlerprinz erscheint und all die Dinge durch den einzigen Kuß des Schweigens zum Leben erweckt.


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